PROF. ARNO LEDERER Laudatio von Prof. Arno Lederer am 26. September 2019 bei der Verleihung des Deutschen Architekturpreises 2019 in Berlin. In diesem Verfahren war er Vorsitzender der Jury. (Der Umbau und die Sanierung des Schlosses Wittenberg wurde mit dem Architekturpreis des Landes Sachsen-Anhalt 2019 und dem Deutschen Architekturpreis 2019 ausgezeichnet.) „Schön wie nie“ grüßt das Schild kurz vor dem offiziellen Ortsschild von Wittenberg. Gemeint ist natürlich das Zentrum, nicht das Konglomerat aus Blech und Stahl, das die linke Straßenseite ein- nimmt. Dann kommt, ebenfalls linker Hand, Pies- teritz. So unrecht hat das Schild doch nicht, denkt man. Schließlich taucht der alles beherrschende Turm der Schlosskirche auf. Aus ihrem Sockel ent- wickelt sich die gewaltige Schlossfassade, wobei das Wort Fassade nicht ganz richtig ist. Vielmehr schaut man auf ein Volumen, einen Klumpen, wie eine Plastik aus Lehm und Ton, von der auch nicht gesagt werden kann, sie hätte eine Fassade. Der Eindruck wird durch die Abwesenheit eines Dach- stuhls bestärkt. Einzelne, ebenso geschlossene Würfel blicken etwas zurückliegend über die äußere Mauer. Als die Sonne durch ein Wolkenloch bricht, zeigen diese Kisten eine feine Sichtbeton- struktur, ansonsten dominiert der warme Ton des Kalkputzes auf den alten Fassaden. – Im Gegensatz zu dem gewaltigen Rücken, den das Gebäudevolumen dem Ankommenden entgegen- streckt, empfängt es den Besucher von der ande- ren Seite mit zwei, zum Hof hin offenen Treppen- häusern. Man weiß nicht genau, wer wen anguckt: die Zeltgewölbe, die einen aus den Augenhöhlen der Stiege anblicken, oder umgekehrt. Dazwischen spannt sich die Fläche der Außenwand, wie auf den anderen Seiten mit fein profilierten Holzfens- tern, manche davon mit Füllungen aus Eiche. Fenstergruppen, die senkrecht und waagrecht in geordneter Reihe stehen. Warum, schießt einem durch den Kopf, meint die zeitgenössische Archi- tektur, die Fenster an vielen Neubauten größer zu dimensionieren und geschossweise gegeneinander verschieben zu müssen? Aber da winkt schon José Gutierrez Marquez, Partner von Donatella Fioretti und Piero Bruno, wartend, mit der zugesagten Schlossführung beginnen zu dürfen. Er sitzt auf den kaltgrauen Granitstufen, säße aber, man braucht erst gar nicht zu fragen, lieber auf dem sandfarbenen Stein des Schlosses dahinter. – Architekturpreise haben Botschaften. Das Vorbild, letztlich ist der Architekturpreis das, öffnet die Augen. Er lehrt, wie es an anderer Stelle besser gehen könnte. Architekten dürfen keine Außenan- lagen, keine Museologie, keinen Städtebau ent- werfen, Landschaftsplaner keine Häuser, Innenar- chitekten keine Hochbauten usw. Der Kapitols- platz in Rom: heute nicht möglich. Vorher sah es dort aus wie Kraut und Rüben, dann holte man Michelangelo, den „Künstler generale“. Heute haben die Zünfte ihre Claims abgesteckt, der Welt fehlen die Allgemeinmediziner, das Wissen des Gefühls. – Wir sprechen nicht weiter darüber, wollen nun endlich in das Schloss. Wie macht man den Haupteingang in ein Schloss, eines, das, wie wir vorher bemerkten, wie aus einem Stück Ton geformt ist? Nein, nicht groß und gewaltig offen, das wäre zu plump. Es sind zwei kleine scharfe, senkrecht gesetzte Schnitte, wie mit einem Skalpell tief in die Masse geritzt, sparsam, wie von einem Operateur, um den Rest des Kör- pers zu schonen. Ökonomische und präzise pro- testantische Schnitte, intelligent, mit sicherer Hand, von Donatella, Piero und José, alle drei, die Namen riechen danach, katholisch. – Wir gehen hinein. Was ist alt, was neu? Die Frage ist eigentlich falsch, da sie vorurteilig für neu nur das Neue von heute meint. Das Haus, Schloss, Lager, Wohnungen, Kaserne, Ruine, neu und alt durch Jahrhunderte in kontinuierlichem Wechsel. Mal reich, mal arm, verstümmelt aus Nachlässigkeit, Zerstörungswut und Nutzungsänderung. Die Preu- ßen hatten dicke Schotten eingebaut, die den angenehmen Rhythmus der Fenster ergeben, sie haben das Dach abgetragen, über den Gewölben meterhoch Dreck gehäuft, damit die Kanonenku- geln die Geschosse darunter nicht zerstören. Der Wandel ist wohl das Vorbild für die Architekten, das Werkeln von Baumeistern durch Jahrhunderte, der Gedanke des Weiterwerkelns mit technischem und künstlerischem Verstand, mit Liebe und Zuneigung zu einem geschundenen Prachtbau. Am Haus weiterbauen, damit es für die nächsten hundert, zweihundert Jahre wieder auf die Beine kommt. Weder mit den Mitteln der Rekonstruktion noch mit der arroganten Haltung sogenannter moderner Architektur oder der Denkmalpflege der Moderne, die mit dem sichtbaren Unterschied zwischen alt und neu dem kulturfernen Besucher eine Lehrstunde meint erteilen zu müssen. Vorbei 42 ARCHITEKTURPREIS DES LANDES SACHSEN-ANHALT 2019